Kajo Aicher aus Tettnang und Thomas Henne aus Friedrichshafen haben mir im Namen des Vereins der Gemeinwohl-Ökonomie Region Bodensee-Oberschwaben zehn Fragen gestellt, die ich sehr gern beantwortet haben.
- Wenn Sie an Klimawandel denken, dann …
Die Klimakrise ist die größere Krise. Die Entwicklung ist besorgniserregend. Auch 2020 war wieder ein zu heißes Jahr und es hat zu wenig geregnet. Unsere Wälder sterben, sie leiden unter der Dürre und in der Folge unter Schädlingen. Die Grundwasserstände und Quellschüttungen sind historisch niedrig. Das EU-Klimaziel 2030 auf minus 55 Prozent Treibhausgase reicht nicht. Wir müssen dringend nachbessern zum Beispiel beim CO2-Preis, bei der EEG-Novelle und bei der Energieeffizienz. Der Kohleausstieg muss früher kommen. Die Mobilitäts- und Energiewende muss uns gelingen. Klimaschutz ist eine Querschnittsaufgabe: Agrarpolitik, Wirtschaftspolitik, Gesundheitspolitik, Sicherheitspolitik: Wir müssen alles zusammen mit Klimaschutz denken. Mit unserem Klimaschutzgesetz sind wir in Baden-Württemberg auf dem richtigen Weg. Es ist aber nur ein Anfang. - Welche sozialen Themen sind für Sie die Dringlichsten in Baden-Württemberg?
Der Schulerfolg eines Kindes hängt immer zu sehr von der Herkunft und dem Geldbeutel der Eltern ab. Die Corona-Krise hat die Kluft zwischen den Schüler*innen noch vergrößert. Die einen hatten einen Computer und schnelles Internet zu Hause und Eltern, die ihnen beim Homeschooling helfen konnten. Die anderen hatten das nicht. Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Es wird Zeit, dass sich das ändert. Deshalb brauchen wir eine Kindergrundsicherung. Ein riesengroßes Problem ist es für Familien auch, eine Wohnung zu finden. Der ungebremste Preisanstieg bei Wohnimmobilien ist alarmierend. Wohnen als soziales Grundbedürfnis wird für immer mehr Menschen im Land zu einer Herausforderung. Wir brauchen unbedingt eine neue Wohngemeinnützigkeit, die dafür sorgt, dass in den nächsten zehn Jahren eine Millionen zusätzliche, dauerhaft bezahlbare Wohnungen geschaffen werden. Noch nicht absehen können wir die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie. Die Schere geht immer weiter auf. Die Corona-Krise hat deutlich gemacht, dass das System der sozialen Sicherung im Krisenfall nicht ausreichend schützt. Die Hartz IV Regelsätze reichen nicht wirklich zum Leben. Ein riesengroßes Problem ist eine fehlende Garantiesicherung. Wir müssen Menschen – anders als mit Hartz IV – auf Augenhöhe unterstützen, das soziokulturelle Existenzminimum sichern und verdeckte Armut muss auch bei uns im Land weniger werden. Wir brauchen gerade jetzt eine Grundsicherung, die auf Sanktionen verzichtet und frei von Stigmatisierung ist. In der Zukunft sollte jede und jeder in unserer Gesellschaft verlässlich vor Armut geschützt sein. Nur so können wir unsere Gesellschaft zusammenhalten. - Worin drückt sich für Sie der soziale Zusammenhalt im Ländle aus
und worin sehen Sie diesen gefährdet?
Viele Menschen auch bei uns in Baden-Württemberg spüren die Erosion des sozialen Zusammenhalts. Unser Baden-Württemberg ist ein wohlhabendes, innovatives, wirtschaftlich erfolgreiches Land. Doch das Ländle ist wie ganz Deutschland auch ein ungleiches Land. Die Spaltung zwischen Arm und Reich ist eine reale Gefahr. Wenn sich nicht jeder Mensch unabhängig von seiner Herkunft entfalten und teilhaben kann und der Wohlstand nicht allen zugutekommt, riskieren wir, dass der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält, immer schneller zerbröselt. Die Bewältigung der Corona-Krise und ihrer Folgekrisen wird noch Monate und Jahre dauern. Wir brauchen eine faire Verteilung der Lasten. Gefährlich wird es, wenn wir Einzelne oder ganze Milieus abhängen und verlieren, wenn gesellschaftliche Gruppen ihre Sonderinteressen vertreten, also Jung gegen Alt oder Stadt gegen den ländlichen Raum, Geimpfte gegen Nicht-Geimpfte. Mit Sorge sehe ich die Verrohung der Sprache, die Diskriminierung von Minderheiten, rechtsextreme Tendenzen und die Verbreitung von Verschwörungserzählungen. - Kennen Sie die Ansätze der GWÖ und wo ist es Ihnen begegnet?
Wohlstand ist mehr als Wachstum. Wir befinden uns im Zeitalter großer Transformationen. Nachhaltigkeit darf dabei nicht auf der Strecke bleiben. In der Praxis der Unternehmensführung gilt jedoch leider größtenteils nach wie vor: Shareholder Value, also der Wert eines Unternehmens für einzelne Aktionäre und Aktionärinnen, vor Stakeholder und Public Value, sprich dem Wert, den ein Unternehmen für alle Mitwirkenden und die Allgemeinheit erfüllt. Gemeinwohl-Unternehmen kann grundsätzlich jedes Unternehmen werden – vom Hotel in Friedrichshafen bis zum Outdoor-Ausrüstungshersteller in Tettnang. Ich freue mich über alle, die die Initiative ergreifen. In der vergangenen Woche habe ich virtuell die Firma Sonett in Deggenhausertal besuchen dürfen. Das Unternehmen orientiert sich nicht nur an Gemeinwohlökonomie, sondern zieht Verantwortungsökonomie vor. In unserem Wahlprogramm zur Landtagswahl 2021 steht, dass wir Grüne die Gemeinwohlökonomie stärken möchten. Dafür wollen wir im Wirtschaftsministerium eine Anlaufstelle für Gemeinwohlökonomie (GWÖ) schaffen. Alle Unternehmen, die eine Gemeinwohlbilanz erstellen, sollen leichte Zugänge zu Fördermitteln erhalten. Begegnet ist mir Gemeinwohlökonomie also in meinem Wahlkreis und in unserem Wahlprogramm. - Welche Aspekte der Nachhaltigkeit sind Ihnen besonders wichtig?
Wir entscheiden jeden Tag, ob wir Produkte wie T-Shirts oder Mobiltelefone kaufen, die Menschen unter würdigen und fairen Bedingungen hergestellt haben – oder eben nicht. Wir entscheiden, wie viel Energie wir verbrauchen und wie wir mit den Ressourcen und der Natur umgehen. Unser Lebensstil und unsere Art zu wirtschaften haben unmittelbar Folgen – für uns, andere und zukünftige Generationen. Daraus ergeben sich unsere wichtigsten Ziele. Wir alle sind gefordert: Politik und Wirtschaft, jede und jeder von uns. Nennen möchte ich an erster Stelle den Schutz des Klimas und der Natur. Beides ist mir besonders wichtig. Als Landes- und Agrarpolitiker kümmere ich mich vorrangig um die Nachhaltigkeitsziele, zu deren Erreichen die Landespolitik in besonderem Maße beitragen kann. Ein wichtiger Aspekt für mich persönlich ist die Ökologisierung der Landwirtschaft. Ich will, dass wir unser Landökosystem schützen. Alles hängt mit allem zusammen: Wir brauchen nachhaltige Städte und Gemeinden, nachhaltigen Konsum und Produktion und zum Beispiel weniger Plastikmüll, der leider während der Pandemie wieder mehr wird. Stichworte sind Coffee-to-go-Becher und Verpackungsmülls verursacht vom Online-Einkauf und Abhol- und Lieferservices. - Inwieweit haben Sie bisher die UN Agenda 2030 in ihrer politischen Arbeit eingesetzt oder sich darauf bezogen?
Die Agenda 2030 ist ein „Weltzukunftsvertrag“. Mit diesem Vertrag verpflichten sich die Staaten und damit natürlich auch alle Bundesländer und Regionen dazu, allen Menschen bis zum Jahr 2030 ein Leben in Würde zu sichern. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen auch wir bei uns in Baden-Württemberg unsere Lebensweise ändern. Dramatisch ist, dass Deutschland insgesamt kein Vorreiter ist. In der Nachhaltigkeitspolitik handeln wir immer noch zu klein und zu spät. Im Land machen wir vieles besser. Wir arbeiten daran, Wohlstand gerechter verteilen und so wirtschaften, dass unsere Lebensgrundlagen erhalten bleiben. Dazu braucht es eine an Nachhaltigkeitszielen ausgerichtete Gesetzgebung. Heruntergebrochen kann das auch die Solarpflicht für Dächer sein. Das Klima-Nachhaltigkeitsziel ist das wichtigste. Die Biodiversität nimmt ab. Auch das ist alarmierend. Als Landes- und Agrarpolitiker halte ich dagegen. Nennen möchte ich das Biodiversitätsstärkungsgesetz und das Klimaschutzgesetz. Für beide habe ich mich mit meiner ganzen Kraft eingesetzt. - Welchen Schwerpunkt setzen Sie für eine nachhaltige Entwicklung in den nächsten 5 Jahren im Land Baden-Württemberg?
Die Ökologisierung der Landwirtschaft. Mehr ökologische Landwirtschaft bedeutet gleichzeitig Klima- und Naturschutz. Denn auch Bodenaufbau ist Klimaschutz, weil schädliches CO2 gebunden wird. Wir erhalten durch Bio-Anbau Lebensräume und bremsen so den Artenschwund ab. Ich setze mich für regionale Wertschöpfungsketten ein und auch dafür, dass regionale Produkte die Verbraucher*innen erreichen. Ich möchte erreichen, dass Mensen, Kantinen und gastronomische Betriebe vermehrt auf Bio-Produkte umschwenken. Ganz weit oben stehen für mich in den kommenden fünf Jahren natürlich auch die Mobilitäts- und Energiewende. Bei der Energiewende sehe ich auch große Chancen in der Agriphotovoltaik. Spannend sind vertikale, also senkrecht aufgestellte Module, weil so Landwirtschaft und Energieerzeugung auf derselben Fläche möglich sind. Vorstellen könnte ich mir auch, dass wir Agriphotovoltaikanlagen auf Obstplantagen errichten. Die Konstruktionen für Hagelnetze stehen schon. - Mit welchen Ansätzen beabsichtigen Sie die Nachhaltigkeitsentwicklung zielorientiert zu managen?
Wissenschaft für Nachhaltigkeit – das ist ein wichtiger Ansatz. So steht es auch in unserem Wahlprogramm zur Landtagswahl. Wir wollen einen Schwerpunkt in der Forschungsförderung setzen. Hierzu werden wir erneut eine „Expertengruppe Nachhaltigkeit“ einsetzen, die Handlungsempfehlungen für gute, nachhaltige Forschungskonzepte erarbeitet. Wir wollen den „Umweltforschungsplan Baden-Württemberg für Klimaschutz und Nachhaltigkeit“ von Umwelt- und Wissenschaftsministerium deutlich erweitern. Wir setzen uns dafür ein, dem ökologischen Grundlagenwissen in den relevanten Fächern einen stärkeren Stellenwert zu geben. In der Lehramtsausbildung wollen wir Nachhaltigkeit und Klimaschutz stärker verankern.
Wir Grüne legen auch großen Wert auf das Bauen mit regionalen und nachhaltigen Baustoffen. Auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit wollen wir die Holzbauoffensive fortführen und nachhaltige Bauweisen unterstützen. Auch nicht der Höchstbietende soll eine Fläche für den Wohnungsbau bekommen. Sie soll vielmehr zum Richtpreis an die*den Bauwillige*n mit dem besten Konzept gehen. Diese Konzeptvergabe wollen wir zum Regelfall machen. So ist es möglich, stetig einen Mehrwert auch für Nachhaltigkeit zu erzielen. Klimaschonende und nachhaltige Strategien spielen auch im Kulturbereich eine immer größere Rolle. Wir werden diese noch stärker unterstützen. Nachhaltigkeitsprojekte wie das „Green Shooting“ im Filmbereich wollen wir daher anpassen und auf andere Kulturbereiche ausweiten, beispielsweise auf die Musikfestival- oder Clubszene. Künftig soll jede Kultureinrichtung des Landes ein Nachhaltigkeitskonzept zu Klima- und Umweltschutz sowie zu sozialen Strukturen erarbeiten. - Was war die letzte nachhaltige Maßnahme, die Sie persönlich umgesetzt haben?
Ich habe als junger Landwirt den Hof meiner Eltern auf Bio umgestellt, unseren Demeterhof 30 Jahre lang bewirtschaftet und auf den Dächern Photovoltaikanlagen installiert, lange bevor es Pflicht geworden ist. Wenn ich meine Kinder in Nord- oder Ostdeutschland besuche, fahre ich die langen Strecken mit der Bahn. Ich habe das auch im Pandemie-Jahr so gemacht. Politisch war es das Aushandeln eines Kompromisses zwischen Landwirtschaft und Naturschutz, der im Biodiversitätsstärkungsgesetz festgeschrieben ist. - Was möchten Sie der Gemeinwohlökonomie Bewegung mit auf den Weg geben?
Christian Felber, Autor des Buches „Gemeinwohl-Ökonomie“ und Mitinitiator der Gemeinwohl-Ökonomie-Bewegung, stellte richtigerweise fest: „Unser jetziges Wirtschaftssystem steht auf dem Kopf. Das Geld ist zum Selbst-Zweck geworden, statt ein Mittel zu sein für das, was wirklich zählt: ein gutes Leben für alle.“ In der Pandemie haben wir dazu gelernt. Ich wünsche der Gemeinwohl-Ökonomie Bewegung, dass ihre Botschaft viele Menschen erreicht: Unternehmer*innen, Gründer*innen und natürlich Verbraucher*innen. Nach der Pandemie muss der Neustart der Wirtschaft mit mehr Gemeinwohl-Ökonomie, Nachhaltigkeit und Klimaschutz gelingen.